Am 23. September beginnt Frodo Beutlin mit seinen Gefährten seine große Reise. Seltsamerweise komme ich im gleichen Zeitraum oft zum Herrn der Ringe von J.R.R. Tolkien zurück. Womöglich ist es die herbstliche Stimmung, der früh hereinbrechende Abend oder (hier nur bisweilen) die nebligen Abend- oder Morgenstunden, die mich an die Nebelberge denken lassen. Ich lese nie alles, aber immer wieder gern Passagen aus Die Gefährten. Vor kurzem hörte ich in einem Interview mit George R.R. Martin, dass ihm das erste Buch ebenfalls am besten gefalle. Doch so mancher lehnt Tolkiens Bücher über die Jahre hin ab oder ist nie so recht hineingezogen worden: Seine Schreibe sei zu detailverliebt in Landschaften und Gedichten. Der Vorwurf von „fünf Seiten über Wiesen und Wälder“ steht immer wieder im Raum und ich frage mich, ob hier denjenigen, die diesen Vorwurf erheben, nicht die Erinnerung einen Streich spielt. Denn wann immer ich im ersten Buch des Herrn der Ringe lese, finde ich solche Passagen weder langweilig noch sind sie zu lang. Ich kann nur jedem empfehlen Tolkien auszugsweise (oder gar vollständig) erneut zu lesen, um sich davon zu überzeugen.
Die Bedeutung des Trichters in Dungeon Crawl Classics
Dungeon Crawl Classics geht einen ungewöhnlichen Weg bei der Charaktererschaffung. Die Spielenden starten mit drei oder vier zufällig ausgewürfelten Figuren mit 1W4 Trefferpunkten. Diese haben Berufe und Ausrüstung, die recht typisch für eine Dorfgemeinschaft in einer Fantasywelt sind, aber Kampferfahrung oder Zaubersprüche besitzen sie nicht. Dann erhält jede Figur noch einen Namen und schon ziehen sie los, um ein episches Abenteuer zu erleben. Dieses Abenteuer ist ausgesprochen gefährlich und wird als Trichter bezeichnet. Nur wenige werden lebendig zurückkehren und nur die Überlebenden werden Stufe 1 erreichen, eine Klasse auswählen und zu noch größeren Abenteuern aufbrechen. Der Clou an dieser Methode ist, dass man sich keine Hintergrundgeschichte für seinen Charakter ausdenken muss, sondern das die Gruppe gemeinsam und spielerisch ihren Hintergrund erlebt. Der Trichter schreibt die bemerkenswerten Stellen in einer Abenteurerbiographie durch verrückte Begegnungen, schreckliche Tode, große Reisen und lebensgefährliche Situationen. Es ist eine fabelhafte Methode, um ins Spiel und Abenteuer einzusteigen, denn irgendwann zieht es auch einen gesetzten Hobbit aus Beutelsend ins Abenteuer – auch wenn diese selten so tödlich sind wie ein Trichter.
Der Beginn eines großen Abenteuers
Wo waren wir stehen gelieben? Ah ja: Der Ring wandert. Frodo, Sam, Pippin (und später Merry) sind unterwegs und erleben ihr erstes Abenteuer. Werfen wir einen Blick auf die Charaktere: Frodo, Merry und Pippin kommen alle aus gutem Hause und könnten dem Landadel zugerechnet werden. Sam geht als Gärtner einer handwerklichen Arbeit nach. So eine Abenteurergruppe kann man mit der Tabelle 1-3: Berufe (DCC, S. 22, 23) gar nicht auswürfeln. Halblinge haben nur wenige Berufe. Das sollten wir mal rasch ändern mit folgender kleiner Hausregel:
Wenn bei der Charaktererschaffung 55 – 65 ausgewürfelt wird, kannst du entweder den ausgewürfelten Beruf nutzen oder erneut auf der Tabelle würfeln, um einen neuen Halblingberuf zu bestimmen. Das funktioniert natürlich bei Elfen und Zwerge genauso.
Beispiel: Der erste Wurf bei der Charaktererschaffung zeigt eine 56: Ein Halblingfärber. Ich würfle erneut und erhalte eine 79 und ein Halblingadliger ist geboren (der zufällig einen Ring als kostbaren Gegenstand bei sich trägt … Zufall?!)
Nun haben wir also unsere Gruppe und es wird Zeit Frodo und seine Freude auf die Abenteuerreise zu schicken. Niemand von ihnen hat viel Erfahrung im Abenteuerhandwerk und doch haben die Hobbits eine wichtige Aufgabe zu erledigen. Schon bevor sie den Alten Wald erreichen, müssen sie einige Herausforderungen meistern. Nicht nur ist es die erste Nacht in der Wildnis, die Hobbits werden auch verfolgt von den schwarzen Reitern. Sie müssen sich verbergen und eine Entscheidung treffen: Weiter entlang auf der Straße oder lieber abseits des Weges? Abseits des Weges wähnen sich die Halblinge sicher, aber dennoch sind die schwarzen Reiter nicht fern. Allerdings gibt es auch eine Zufallsbegegnung mit einer Gruppe Elben und so haben die Halblinge einen sicheren Zufluchtsort für die Nacht und Frodo erhält von Gildor noch Ratschläge und einige Informationen über die schwarzen Reiter. Die Reise endet nach einer weiteren Begegnung mit einem schwarzen Reiter bei Bauer Maggot, einem weiteren Zufluchtsort. Über die Fähre erreichen die Hobbits dann Krickloch im Bockland, Frodos neues Heim, wo die Reise zunächst endet.
Der erste Teil des Trichters beginnt recht harmlos. Die Halblinge haben einige Zufallsbegegnungen mit den schwarzen Reitern und treffen auf die Elben und den alten Bauer Maggot mit seinem Hund. Um den Trichter zu überstehen, müssen die Hobbits immer wieder Zufluchtsorte aufsuchen, was mich sehr an das Mittelerde-Kartenspiel erinnert. Aber bislang waren das nur kleine Herausforderungen, die großen Abenteuer warten noch.
Die Straße gleitet fort und fort …
Nach einigen Tagen erreichen die Hobbits (nun auch mit Merry) endlich den Alten Wald. Merry kennt sich hier am besten aus (Tolkien, 2022) :
Aber der Wald ist wirklich absonderlich. Alles in ihm ist sehr viel lebendiger, alles was darin vorgeht, geschieht sozusagen bewußter als im Auenland. Und die Bäume mögen keine Fremden. Sie beobachten dich. Gewöhnlich begnügen sie sich damit, dich zu beobhacten, solange es heller Tag ist, und tun nicht viel. Gelegentlich mag es sein, dass die unfreundlichsten einen Zweig fallen lassen oder eine Wurzel herausstrecken oder mit einer langen Ranke nach dir greifen. Aber des Nachts kann es höchst beängstigend sein, ist mir jedenfalls erzählt worden.
Im Alten Wald müssen sie sich mit den Bäumen auseinandersetzen. Den Pfad zu verlassen ist riskant und der Weg durch den Wald ist mühsam. Gefährlich wird es, als die Gruppe dem Alten Weidenmann begegnet. Die Hobbits werden von ihm zunächst verzaubert, sodann werden Merry und Pippin von ihm verschluckt und Frodo und Sam versuchen alles um die beiden zu retten. Doch vergeblich. Nur Tom Bombadil kann die Weide bändigen und die Hobbits retten. Anschließend finden sie in Toms Haus eine Zuflucht und lernen Goldbeere kennen. Die Hobbits bleiben und kommen wieder zu Kräften und nach Goldbeeres Waschtag können die Abenteurer weiterziehen. Sie erhalten einen machtvollen Zauberspruch, der Tom Bobmadil herbeiruft und eine Warnung über die Hügelgräber und ihre gefährlichen Bewohner. Nun ist das Abenteuerziel Bree in Reichweite, doch ein weiteres Mal müssen sich die Hobbits beweisen (Tolkien, 2022):
Sie kamen langsam voran. Damit sie nicht voneinander getrennt würden und womöglich verschiedene Richtungen einschlügen, ritten sie hintereinander und Frodo vorneweg. Sam kam hinter ihm, nach ihm Pippin und dann Merry. Plötzlich sah Frodo ein hoffnungsvolles Zeichen. auf beiden Seiten schimmerte es dunkel durch den Nebel; und er vermutete, dass sie sich endlich der Lücken zwischen den Bergen näherten, dem Nordtor der Hügelgräberhöhen. Wenn sie dort hindurchkönnten, wären sie gerettet.
Doch weiter könnte die Rettung nicht entfernt sein. Wie Totengeister umschließt der Nebel die Halblinge und die Gruppe wird getrennt. Die Grabunholde greifen nach dem Leben der Hobbits und sind vermutlich die gefährlichsten und unheimlichsten Gegner, denen die Abenteurer begegnen. Frodo erwacht in einem Grabhügel, in einem Leichtuch gewickelt und behangen mit Grabschmuck und uralten Reliquien. Die Grabunholde (im englischen Barrow-Wights, wobei das Wort Wight im deutschen noch immer als Wicht – wie in Bösewicht – überlebt hat) können nur von Tom Bombadil vertrieben werden, den Frodo mit dem Zauberspruch herbeiruft. Vom Meister gerettet, können die Hobbits zurück auf die Straße und erreichen schließlich Bree, wo das Abenteuer wieder in einer Zuflucht endet.
Im zweiten Abschnitt des Trichters werden die Hobbits wirklich auf die Probe gestellt. Der alte Weidenmann ist ein herrlicher Gegner, den man auch ohne Tom „Hallöchen-ich-bin-die-rettende-Spielleitung“ Bombadil besiegen oder umgehen kann. Toms Haus ist wieder eine klassische Zuflucht bei der man Rast und Rat erhält. Aber die größte Gefahr sind die Grabunholde. Eine fabelhafte Szene mit der ein Trichter auch starten könnte. Behangen mit Schmuck und Waffen erwacht die Gruppe in einem Grabhügel und muss sich gegen die schrecklichen Kreaturen zur Wehr setzen. Aber auch als letztes großes Hindernis sind die Grabunholde wirksam, denn sie vereinen die unmenschlichen Schrecken der schwarzen Reiter mit der geistverwirrenden Zaubermacht des Alten Weidenmanns.
Der Trichter für die Hobbits?
Blicken wir auf diese Etappe der Abenteuerreise zurück, fällt auf, dass die Hobbits von einer Zuflucht zur anderen reisen, wobei sie die Elben und Tom Bombadil eher zufällig treffen (wobei letzteres diskutabel ist). Der Weg zu Bauer Maggot war vorausgeplant, genauso wie Frodos neues Haus im Bockland ein geplantes Ziel war. Ein Aufbau, den man für einen „Reise-Trichter“ übernehmen könnte. Auf so einer Reise gibt es natürlich zufällige Begegnungen und Ereignisse, die positiv (sichere Rast, Ratschläge, Verbündete) oder negativ (Feindbegegnungen, Hindernisse) sein können. Für einen Trichter gilt allerdings immer die Frage: Ist das Abenteuer ausreichend tödlich? Schließlich werden bei einen Trichter ja gleich 12-16 Charaktere auf das Abenteuer geschickt und jeder Charakter muss sich beweisen und versuchen zu überleben. Und ja, diese Reise ist durchaus tödlich: die schwarzen Reiter, der Weidenmann und natürlich die Grabunholde hätten die Hobbits leicht in ein ewiges Grab befördern können. In der Geschichte passiert nichts dergleichen, aber die Hobbits sind hier am Beginn ihrer Karriere ganz sicher keine Abenteurer und benötigen eine Menge Hilfe, um nach Bree zu kommen. So sind die vier Halblinge auf dieser kleinen Reise gewachsen und haben etwas erlebt, dass ihren Charakter formt. Für einen DCC-Trichter müsste es allerdings noch etwas gefährlicher werden und natürlich wären dann nicht nur vier Hobbits unterwegs, sondern mindestens zwölf Halblinge, bewaffnet mit Mistgabeln, Knüppeln, Hühnern, Ponys, Pfeifenkraut und gutem Bier.
Tolkien, J.R.R. (2016): Der Herr der Ringe, illustrierte Ausgabe, 7. Aufl., Stuttgart: Klett-Cotta